In meiner Weltanschauung existiert kein romantisierter Liebesbegriff - ich bin mir dessen bewusst, dass mein Verständnis von Liebe pessimistisch und für viele unverständlich erscheint, aber um mich den lyrischen Beiträgen von weiter oben anzuschließen: Feuer ist lebensnotwendig, wärmt und zerstört - Wasser ebenso. ALLES hat zwei Seiten und so auch die Liebe. Kein Mensch kann sich ihr entziehen, denn jeder ist in irgendeinem Punkt schwach und verletzlich, hat Hoffnungen und Träume, die ihn "angreifbar" machen für Emotionen. Bislang lernte ich noch niemanden kennen, der keinerlei psychisch-traumatisierende Kindheitserlebnisse hatte oder noch nie emotional verletzt wurde. Und dennoch haben sie alle die Liebe nicht aufgegeben. Und warum? Weil der Mensch schwach ist - ein emotionaler Mensch leidet unter Problemen, welche ein Rationalist nicht einmal wahrnimmt. Wir sehen das hier im Forum - Jesse Blue polarisiert, er verkörpert den kühl-distanzierten Rationalisten und wird deshalb oft an den Pranger gestellt. Ob diese virtuelle Persönlichkeit auch mit aller Stärke situationsunabhängig im realen Leben gelebt werden kann, ist eine andere Frage.
Nochmals zurück zum Terminus Liebe - für mich untrennbar verbunden mit Unterjochung, Selbstaufgabe, Macht und Verwundbarkeit. Das soll keineswegs heißen, Liebe wäre grundsätzlich ablehnenswert - es heißt einfach, dass ein Gleichgewicht herrscht zwischen positiven und negativen Faktoren. Deswegen wird einem jeden geraten, welcher verzweifelt auf der Suche nach einem "Wunderpartner" ist, der die Welt wieder ins Lot rücken soll und das eigene verkorkste Leben wie von Zauberhand zum Guten wendet, er solle zuerst mit sich selbst ins Reine kommen. Liebe gibt Energie und Kraft, aber sie raubt diese auch. Im optimalen Fall zu gleichen Stücken, um wieder im Gleichgewicht zu bleiben. Nimmt die Qual, Trauer oder Verletztheit in einer Beziehung Überhand, ist das Gleichgewicht im Eimer und die Beziehung sollte beendet werden. Wird sie das nicht, handelt es sich zwar immer noch um Liebe, allerdings mit den oben genannten negativen Begleiterscheinungen von Selbstaufgabe, Verwundbarkeit usw. und verliert ihren positiven Charakter. Aus mancher Liebe findet man nicht so leicht einen Ausweg - beispielsweise gut sichtbar in Kind-Elternteil-Beziehungen. Das Kind liebt seinen Elternteil immer noch, obwohl es Menschenunwürdiges durch diese Person erleiden musste - aber es ist eine Hass-Liebe, die alle Energie raubt, nicht gut tut und vieles zerstört. Wobei der Terminus Liebe grundsätzlich mit allerhöchster Vorsicht zu genießen ist - das meiste ist Illusion. Ich glaube einen Menschen zu lieben, aber in Wahrheit liebe ich die Vorstellung, die ich von ihm habe. Ich bastel mir einen irrealen, perfekten Menschen zusammen und bin im Nachhinein enttäuscht, wenn er meinen Anforderungen nicht entspricht. Ich mache mich selbst dadurch abhängig, verliere die Kontrolle, steigere mich hinein und verlerne das wichtigste Prinzip in jeder Beziehung: die Toleranz.
In diesem Sinne komme ich zum Schluss: Ich spreche nicht gern von Liebe. "Liebe" bedeutet für mich schon fast Zwang zur Selbstaufgabe. Wieso muss ich einer Beziehung oder einer Person, die mich in meinem Leben bereichert, einen Stempel aufdrücken? Es gibt viel schönere Arten, seine Zuneigung zum Ausdruck zu bringen, als durch die Worte "ich Liebe dich". Sie klingen in meinen Ohren schon fast wie Hohn, besonders, da sie meist nicht mit Bedacht gesprochen werden, sondern als Standardfloskel enden.