Nach einem Gespräch mit einer Freundin, die mich darauf brachte, konnte ich es - endlich- einordnen. Und nun ist Trauerarbeit dran. Das ist tatsächlich erleichtern, denn es ist so eine Art Knoten geplatzt,die Spannung, die immer irgendwie in der Luft lag, ist plötzlich gewichen
Kannst Du mir das bitte genauer darstellen. Als was kannst du die Gefühle einordnen? Panikartige Gefühle... Womit stehen diese in Zusammenhang? Wie heißt der Knoten? Und auch wenn einmal der Knoten platzt, und man sich bewusst wird, welche Gefühle hier herrschen, wie hilft das einem??? Wie kann man trotz Wissen den Schmerz bewältigen?
Liebe Neuanfang2013,
also wenn so lese, was Du über das Verhältnis zu Deiner Mutter schreibst, fallen mir ziemliche Parallelen zu mir auf bzw nein, zu der Situation zu meinen Eltern, als ich Kind war.
Also erstmal in short form:
Die Panikgefühle habe ich als Todesangst eingeordnet. Weniger das Gefühl, nicht wichtig oder wertvoll für jemanden zu sein, sondern eher total verlassen und einsam, so wie nicht existent.
Das, bin ich der Meinung, beschreibt auch Alice Miller in einem ihrer Bücher, daß Kinder bis ungefähr 1 Jahr den plötzlichen Kindstot sterben, wenn man sie nicht beachtet.
Weil sie so dringend auf Lebenszeichen angewiesen sind und wenn sie die nicht bekommen, in absolute Resignation verfallen.
Ich kenne auch dieses Gefühl der Ausweglosigkeit, des Schmerzes des nicht angenommen werdens.
Überlebt und auch immer mehr mit Jahren überwunden habe ich das in verschiedenerlei Hinsicht.
Einmal habe ich immer viel Glück mit Menschen gehabt, die mir zur Seite standen oder mir die Augen öffneten.
Zum anderen mußte ich mühsam lernen, mich selbst zu "betüdeln". Mir blieb aber auch nichts anderes übrig, denn ich war auch für meine Umwelt nicht immer umgänglich geschweige denn eine wirkliche Freundin in jungen Jahren. Ich wußte gar nicht, wie das geht und war ja selbst so bedürftig.
Und höchst kränkbar. So hatte ich zwar immer viele Freunde, aber auch viele haben sich distanziert.
Irgendwann war ich auch mal mit mir allein und so habe ich es angehen können.
Es gab also nur die Entscheidung zwischen Leben und Tod. Tod fand ich blöd, weil ich war ja ehrgeizig und wollte doch noch soviel im Leben,
aufgeben war nicht...
Und ich weiß es nicht, aber wenn man dafür keine Vorbilder hat, weiß man nicht, daß es geht und wie es geht.
Ich habe mit 12 eine 16 Jahre ältere Nachbarin kennengelernt, die eine 5 jährige Tochter hatte.
Zu ihr bin ich oft gegangen und habe behauptet, ich wollte mit ihrer Tochter spielen. Sie wußte genau, daß ich nur einen Ort brauchte, wo ich mal in Ruhe sein konnte und hat mich gelassen. Das kleine Mädchen war auch ein Sonnenschein und hat sich dann immer fröhlich an mir vorbei
beschäftigt, während ich wie paralisiert in ihrem Kinderzimmer zwischen den Legosteinen saß.
Diese Frau hat mich dann quasi die nächsten 25 Jahre, die wir Kontakt hatten, nachsozialisiert.
Sie war eine sehr charakterstarke Frau mit hohen moralischen Prinzipien, Tolerant, aber streng im Detail. Ich habe sie sehr respektiert.
Bei ihr war auch immer „die Bude voll“, sodaß ich über die Jahre immer mehr Sozialverhalten und Zwischenmenschliches Miteinander erleben konnte.
Ich habe lange gebraucht, aber es letztlich verinnerlicht. Zum Schluß hatte sie 4 Kinder und als mein Sohn geboren wurde, war sie für mich und auch als Beispiel einer starken Mutter eine wirkliche Unterstützung. Sie war auch diejenige, welche mir bereits mit 17 Bücher von Alice Miller empfahl (Eltern, Kind, Neurose zB) und eben ihre Kinder wirklich sehr warmherzig und fröhlich erzogen hat. Obwohl sie immer gesagt hat, Erziehung kommt von Ziehen , daß fand sie falsch...
Meine Eltern haben mich (und meinen 3 Jahre älteren Bruder) immer kontrolliert, geschlagen, bestraft und wir mußten immer funktionieren.
Was sie gerade von uns wollten, war manchmal nur zu erahnen, es war immer launisch und eine insgesamt auch unsichere und bedrohliche Situation.
Zeitgleich haben sie uns aus ihrer Ehe quasi ausgeschlossen.
Da meine Eltern schon aus familiär sehr schwierigen Verhältnissen stammten, waren sie also höchstneurotisch, und zwar beide.
Beide kamen aus Familien, wo entweder die Mutter oder der Vater Schwerstalkoholiker waren und Gewalt war an der Tagesordnung.
Beide fanden sich und taten sich zusammen. Sehr früh schon brachen beide fast den kompletten Kontakt zu ihrer Familie ab,
die wahrscheinlich auch überhaupt nichts reflektierten geschweige denn änderten. So wurde es mir als Kind jedenfalls vermittelt.
Mein Vater hatte 4 Schwestern und da er der Älteste war, hatte er auch immer an allem Schuld.
Meine Mutter hatte einen jüngeren Bruder, den sie später noch im Erwachsenenalter hasste, weil er ihr wohl immer einen auswischte und auch sie
dafür bestraft wurde. Vom Vater. Gewalttätiger Alkoholiker.
Ich und mein Bruder hatten auch mal jahrelang keinen Kontakt, denn auch bei uns griff das gegeneinander aufhetzen meiner Mutter.
Mein Bruder war angeblich faul aber gutmütig während mir immer unterstellt wurde, ich wäre streitlustig, dafür war ich aber immer Klassenbeste
und hatte gute Zeugnisse. Das konnten wir zum Glück gemeinsam aufarbeiten und ausräumen und uns den Raum schaffen für unser wahres selbst. Unser Verhältnis ist sehr gut und auch, als ich klein war, war es gut, mein Bruder hat mich oft getröstet, nachdem ich verprügelt wurde oder
mir mal wieder angedroht wurde, mir die Daumen abzuschneiden, sollte ich das Daumenlutschen nicht sein lassen.
Nun, meine Mutter hat das also nie verwunden mit ihrem Bruder.
Somit hatten wir auch keine Verwandten, obwohl ich also eine große Familie hätte.
Zeitgleich hatten sie aber auch keine Freunde. Warum, weiß ich eigentlich jetzt nicht, jedenfalls haben sie sowieso niemanden hereingelassen.
Anstattdessen hat mein Vater so eine Klingelanlage gebaut, wo es leuchtete, wenn jemand an der Tür klingelte. Und einen dicken, runden
Vorhand kreisförmig vor die Wohnungstür gebaut, hinter dem sie dann immer standen und durch den Spion guckten und flüsterten, wenn jemand vor der Tür stand...
Nur meine Oma mütterlicherseits durfte noch zu Besuch kommen, aber nur mit 3 Wochen Voranmeldung.
Wir durften natürlich sowieso keinen mitbringen, noch angerufen werden. Wir mußten auch draußen immer in Sichtweise bleiben,
ich hatte genau ausgerechnete Zeiten für den Schulweg und wenn ich mal 1 Minute später kam, gabs sofort usw...
Wir saßen auch oft nachts im Kohlenkeller zur Strafe oder standen im Pyjama vor der Tür, was die Nachbarn zwar ungläubig begutachteten,
aber nicht weiter verfolgten, "man mischt sich ja nicht ein"...
Somit stand ich 15 Jahre unter Totalkontrolle. In dieser Zeit bin ich auch oft beschämt worden,
mich schämen war auch lange Jahre ein Thema für mich, auch dieses Gefühl war oft
situativ unangemessen, intellektuell zwar mitgeschnitten, emotional aber irgendwie nicht.
Im Endeffekt war ich also erstmal gut konditioniert auf „was erwünscht ist“ und was passiert, wenn ich es nicht tue...
Da die Strafen jeweils drakonisch waren und auch grausam (ich durfte nicht weinen, wenn ich geschlagen wurde), bin ich also lange Jahre später noch sehr darauf konditioniert gewesen,
zu schauen, was andere wohl wollen und mir immer zu überlegen, was ich soll.
Das war eine harte Übung, als ich nun jahrelang bei meiner „Ersatzmutter“ saß, wo ich nichts mußte, alles konnte und mir immer wohlwollend begegnet wurde.
Wenn sie mal mit ihren Kindern schimpfte, die alle durch die Bank weg selbstbewußte und fröhliche Wesen waren und nichts Schlimmes von ihr zu befürchten hatten, bin ich immer fast gestorben und dachte, oh gott, wann bin ich dran, ich hatte auch 10 Jahre später noch sehr viel
Angst...
Trotzdem hatte ich auch mein eigenes Leben samt Beziehungen zu Männern, was ein Übungsfeld.
Ab und an war es desaströs, mit 18 war ich beziehungsunfähig. Ich habe mich zwar verliebt,
auch schon mit 13, aber kaum wollten die auch was von mir, habe ich sie abgewiesen, rigoros.
Weil ich so eine Angst bekam und mich so schämte.
Das konnte ich dann schrittweise auflösen auch mithilfe von liebevollen und sehr geduldigen Männern. Es war anfangs eine Überwindung und auch Kopfsache, aber es hat viel gelöst.
Auch die Qualität meiner Freundschaften hat sich mit den Jahren deutlich verbessert.
Mit Mitte 30 (ich bin jetzt 47) habe ich eine Therapie angefangen.
Naiverweise dachte ich, ich hätte da so ein paar Kleinigkeiten auszuräumen—ääähm--
Das dauerte dann 6 Jahre, ich hatte Depressionen. Aber die Therapeutin war sehr bodenständig und
bei Abschluss meinte sie, ich wäre hochintelligent, trüge mein Leben auf der Zunge (ja ha...) und
hätte ein großes Herz.
Weiterhin hat mein Sohn bzw das Aufziehen meines Sohnes mir sehr geholfen, denn es hat mich
auch ein Stück weit rehabilitiert. Ich konnte so oft nachfühlen, wie er sich fühlt, daß ich über das ihn bemuttern eigentlich auch mein inneres verletztes Kind heilen konnte.
Das ging nicht immer, ich war auch manchmal nicht so zugänglich, aber ich war nie gemein
oder bösartig zu ihm. Ich konnte nur nicht immer, manchmal fühlte ich mich auch innerlich
gelähmt. Aber was ic aus meiner Kindheit mitgenommen hatte, war, daß man Kinder zwar begleitet, führt und unterstützt, aber eben auch in Ruhe lassen muß. Einfach sein lassen.
Damit sie sich selbst erfahren können, im Guten wie im Schlechten.
Ich hatte immer das Vertrauen, daß mein Sohn schon sehr genau weiß, wann er was essen will, schlafen will oder wann er aufs Klo muß. Wenn mangelnde Schlafenszeiten mit Schulzeiten kollidierten, waren das eben die Konsequenzen, die zu ziehen waren.
Aber das hat er immer stoisch durchgezogen, das kleine Kerlchen.
Neuanfang2013, was ich sagen will, ist, daß so eine intensive, gewalttätige Kindheit sich nicht
von heute auf morgen auflösen läßt.
Aber die schlechten Gefühle gehören auch zu uns und wollen gefühlt werden.
Ich habe mich immer gegen Psychopharmaka verwehrt, ich wollte immer das nackte Leben spüren,
Zu ertragen ist es teilweise schwer. In schlimmen Zeiten habe ich mich auf Sofa/ins Bett gelegt , mir eine schöne Kanne Tee gemacht und gelitten. Je mehr Druck ich mir gemacht habe, dieses
Gefühl loszuwerden, je mehr ich meinte, das muß jetzt mal weggehen, je mehr ich mich mit
anderen verglich, desto schlimmer wurde es eigentlich.
Erst, als ich gemerkt habe, daß ich ja nicht daran sterbe und das das zu mir gehört und auch
einen Sinn macht, den ich vielleicht erst nicht verstehen konnte, wurde es besser.
Es hat seine Berechtigung! Mit 15 bin ich abgehauen und habe auf der Straße gelebt.
Ich habe die ersten 15 prägenden und teilweise ja unbewußt gelebten Jahre mit psychisch Kranken Menschen verbracht. Wie kann ich da erwarten, daß nach meinetwegen 10 Jahren alles „in Butter“ ist?
Also: Geduld hilft. Aber auch der Gedanke der Berechtigung. Und die Einsicht, daß meine
Gefühle schon richtig fühlen! Das heißt aber nicht, das ich jetzt sofort irgendwas machen muß.
Nö. Nur fühlen. Und sich nachbemuttern.
Puh, ein langer Text, aber ich hoffe, es ist soweit verständlich?